Ticks

Ticks

Ich trage sie immer mit mir herum, sie gehören dazu wer ich bin, sind meine größten Laster. Haben sich in meinen Körper eingeschrieben, hinterlassen Spuren, verselbstständigen sich, lösen sich ab. Tauchen eine Zeit lang unter, nehmen mich ein. Meine Ticks.
Meine Finger wollen, dass ich sie knacke, meine Zunge will schnalzen, meine Handgelenke wollen an glatten Materialien abgekühlt werden, meine Lippen wollen sich hoch schieben. Mein Körper ist selbstständig, lebt ein eigenes Leben, in dem unterschiedliche Bedürfnisse um ihren Platz und ihren Moment kämpfen.
Ich habe den ganzen Tag zu tun. Wenn ich auf meinem Kuhfell, vor dem Glastisch mit Chromgestell sitze, gehen meine Handgelenke direkt auf Kühlkurs, wollen am Chromgestell ausharren. Wenn ich in der Bib sitze, will meine Zunge unbedingt schnalzen. Meine Nägel wollen über mein Kinn fahren, sodass sie rote Spuren hinterlassen.

In meinem Körper findet eine permanenter Aushandlung darüber statt, welchem Bedürfnis an welcher Stelle nachgegangen werde darf. Ich bin die Managerin für meinen selbstständigen Körper.
Meine Mittel- und Ringfinger wollen sich in die Mulde zwischen Daumen und Zeigefinger legen, sodass sich an dieser Stelle Hornhaut bildet. Mein kleiner Zeh fühlt sich am wohlsten, wenn er über den nächst größeren geschlagen wird. Vor allem dann, wenn ich feste, enge Schuhe trage, in denen ich meine Zehen nicht bewegen kann. Vor dem Einschlafen will jeder Muskel meines Körpers sich nochmal anspannen, sicher sein, dass alle noch da sind.
Wenn ich Auto fahre, befindet sich mein ganzer Körper in einer Stresssituation. Er will sich bewegen, innerkörperlich abgrenzen, einordnen. Will mir meine Kontrolle wegnehmen.
Ich versuche, die Hände ruhig am Lenkrad und die Füße still auf den Pedalen zu halten. Meine Augen wollen sich zusammenkneifen, die Orte, direkt hinter meinen Ohren wollen, dass ich meine großen, breiten Silberkreolen in sie hinein drücke, um sie zu kühlen. Meine Kniescheiben wollen sich hin und her bewegen, haben Angst meine Beine herab zu rutschen. Meine Finger werden nervös in ihrer Bewegungslosigkeit, meine Handgelenke sind zu warm. Meine kleinen Zehen halten angestrengt still, meine Lippen zerfließen ineinander. Meine Zunge weiß nicht wohin mit sich. Meine Augenbrauen wollen kraftvoll von meinen Fingern nachgestrichen werden, damit sie nicht in mein Gesicht abrutschen. Meine Augen wollen gerieben werden, in jede Richtung einmal und dann nochmal von vorne. Alle Muskeln sind verunsichert, ob und wo sie noch funktionieren.
Meistens klemme ich meine Ohrringe einfach hinters Ohr, dann gibt es permanente Abkühlung und Ruhe. Manchmal wollen Andere mir helfen und greifen ungefragt an meine Ohrringe, um sie wieder herunter zu schieben. Im nächsten unbeobachteten Moment klemme ich sie dann wieder hoch. Dabei geht es natürlich nicht um Optik, sondern darum, zwischen den Bedürfnissen meines Körpers zu jonglieren und an unkomplizierten Stellen nachzugeben.
Es geht um die permanente Rückgewinnung von Konturen.
Um aktive, innerkörperliche Abgrenzung, um Rhythmus, Reihenfolge, Choreografie.
Mein Körper ist dauerhaft damit beschäftig, seine Existenz als Vielheit auszutarieren und rückzubesinnen. Und damit, sich selbst zu dominieren. Niemand sonst kann meinem Körper seine Kontur bestätigen, die Kontur entsteht in jedem Moment neu, muss in jedem Moment neu verhandelt werden. Mein Körper ist unabhängig. Macht was er will. Ordnet mich ihm unter, dominiert mich. Ich kann Kontrolle ausüben, in dem ich Bereichen meines Körpers untersage sich zu bewegen. Teilweise vergessen meine Zeigefinger dann, sich mit den Nägeln in mein Daumenfleisch zu bohren, in ihre vorgeformte Kerbe.
Es können Wochen vergehen, in denen sie mich in Ruhe lassen. Unbeteiligt existieren. Und dann wollen alle wieder alles auf einmal. Meine Zähne wollen auf meine Unterlippe beißen, meine Mittelfinger wollen von der anderen Hand über ihre Rückseite gestrichen werden, sodass es an den Knochen ein Bisschen wehtut.
Mein Körper und ich sind permanent am Aushandeln von Kontrolle und Loslassen. Manchmal ist alles ganz ruhig. Dann spürt mein ganzer Körper sich an jeder Stelle, spürt sich als Einheit. Dann mache ich gar nichts und bin einfach da, in meinem Körper, während ich andere Dinge tue oder gar nichts tue. Dann müssen meine Fingernägel sich nicht in meine Handhöhle bohren, in die Stelle wo bereits ihretwegen Hornhaut wächst. Dann müssen meine Mittelfingerknöchel nicht gegen den Ballen meines Daumen drücken und meine Zunge liegt entspannt in meinem Mund. Aber dann dauert es nicht lange, bis alles wieder unruhig wird und sich überall gleichzeitig erfahren muss. Kann sein, dass die Zunge als längste entspannt bleibt. Kann sein, dass sie ein Solo schnalzt und gar nicht mehr damit aufhört.
Meine Nichte macht mich manchmal nach, in dem sie mit der Zunge schnalzt und ihre Oberlippe hoch schiebt. „Ich bin Tannte Greta!“ Damit spiegelt sie mich aber gleichzeitig auch nicht mich sondern meine Zunge, meine Oberlippe. Das einzige worauf ich dabei Einfluss habe sind Verbote und strenge Kontrolle über meinen Körper. Oder ich lasse einfach alles geschehen. Lasse alle Partien meines Körpers machen was sie wollen, mich bewegen und lenken. Sodass sie zu Merkmalen werden von mir, als Person. Als Wiedererkennung, als lustige Eigenschaften oder als Aspekte, die nervig sind.

Meine Ticks; ich bin die ganze Zeit mit euch beschäftigt. Aber was würde ich den ganzen Tag machen, wenn ich euch nicht hätte? Im Sitzen, Stehen, Gehen, Liegen, Sprechen, Sehen? Mit meinen Gelenken, Muskeln, meiner Haut? Würde ich meinen Körper nicht vergessen/verlieren?

Edwin Rosen, Verschwende deine Zeit


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