Berlin, Winter
Letztes Wochenende, da war es so kalt in Berlin, da war es schwierig auszuhalten draußen zu sein. Alle haben gefroren. Alle. Es gab niemanden, die nicht gefroren hat. Und das war auch das Schöne daran. Alle wussten genau, was die anderen gerade fühlen. Und wenn der Bus nicht kommt, habe ich immer gedacht, nachdem der Angezeigte einmal von der Anzeigetafel verschwunden, und beim zweiten Mal an unserer Haltestelle vorbeigefahren ist, wenn der Bus nicht kommt, dann müssen wir das alle zusammen ausbaden. Dann müssen wir da alle durch! Die Alten und die Jungen, die Lieben und die Ruppigen, die, die immer Pech haben und die Naiven. Auch der kleine Hund, der aussieht wie ein zu groß geratener Chihuahua, fast schon ein Dackel aber mit ausdrucksstarkem Chihuahua Gesicht, in dem kleinen bunt gehäkelten Pullunder (ihr Name ist vielleicht Boston), müsste da durch.
Es gäbe nur die 20m2 der Bushaltestelle (durch Kälte wirkt Raum ja auch immer nochmal kleiner; Stoffe ziehen sich ja auch in Kälte zusammen), die Kälte und uns.
Die, die überleben wollen. Die heute noch was Kleines oder Großes vorhaben. Die, die den Bus verpasst haben. Die ganzen Schlüssel für die ganzen Türen in den Handtaschen und an den Rucksäcken und Hosenbunden kläglich klimpernd. Bringt uns jetzt auch nichts, dass wir immer alle möglichen Schlüssel dabei haben!
Die Busfahrerin ist eine mächtige Frau. Sie entscheidet in dieser Nacht in Berlin, ob wir alle was großes zusammen Teilen. Zum Beispiel den Proviant der kleinen Reisegruppe im Zentrum der Wartenden. Locker 50 Prozent ihres Gepäcks. Oder die große Frustration der Ohnmacht. Oder meinen Mantel, das wäre St. Martin-haft, filmisch.
Ich (und ich denke die anderen auch) sind zwiegespalten. Wir lassen uns nichts anmerken, zeigen Ungeduld, Kälte, Wut, Frustration, klimpernde Schlüssel.
Aber hinter den Fassaden:
Vorfreude.
Los Gehts!
Twenty versus Berlin!
Was bauen wir für Shelter?
Einen großen? Jurtenmäßig? Oder mehrere kleine? Welche Teams?
Wie regeln wir den Wachdienst? Wo sammeln wir unser Werkzeug?
Wer hat welche Bücher dabei?
Brennt die ganze Nacht ein Feuer, über dem diejenigen, die aufgrund von realistischer Unruhe nicht schlafen können, sich schweigend gegenüber sitzen?
Oder singt jemand Wonderwall und die Anderen knacken Nüsse, der Hund dreht sich aufgespießt über dem Feuer, sein Pullunder weht als Flagge hoch oben über unserem Lager?
Wer braucht ein Leben danach?
WER BRAUCHT EIN LEBEN DANACH?!
Dann kam der Bus.
No more i love yous.
Für einen kurzen Moment, haben wir uns alle gemeinsam darüber gefreut. Der emotionale Höhepunkt, der erste und letzte tatsächliche Gemeinschaft stiftende Moment.
Danach ist alles vorbei.
Im Bus sitzen wir wie gelähmt, jede für sich. Ob Boston mit eingestiegen ist, weiß ich nicht mal mehr. Dann steige ich aus, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Berlin ist so hart im Winter.
Pause
Eigentlich bin ich Modeschöpferin. Ich schöpfe Mode. Von wo auch immer.
Schöpfen.
Abschöpfen
Abtragen
Palimpsest
(Pa-lim-p-sest)
Archäologie
Knochen
Blut
Die Finger haben geblutet
(Finger – gebludet)
Kunst im öffentlichen Raum
Pause
Eigentlich habe ich aber das Gefühl, ich habe die Mode erschöpft. Oder besser hat die Mode mich erschöpft.
Fertig gemacht.
Ready Made.
Ich habe die Situation an der Berliner Bushaltestelle, in der wir alle zusammen um das Feuer geschlafen und gewacht haben, während die Tiere uns bewachten, eins zu eins aus meiner Erinnerung nach genäht. Alles war darauf zu erkennen. Die Alten, die Jungen, die Lauten, die Leisen, die, die immer Pech haben und die Naiven. Die Würstchen und Marshmallows überm Feuer, die Feuerzangenbowle, das Papier der Schokolade, die wir teilten. Die vielen, vielen Fetzen meines Mantels, den ich St. Martin mäßig, filmisch, teilte. Die Schlüssel, wie sie im Schwarm davon flogen.
Alle haben danach gesagt, dass es haargenau so aussieht, wie es wirklich war.
Und auch die, die nicht dabei waren, haben mir Dms geschrieben und gesagt, dass es wirklich toll und wunderschön aussehe. So eine modische Besonderheit!
Aber leider wollte es niemand danach kaufen. Die Leute sagten: „Es ist unglaublich schön, aber es ist ja nichts, was man auch so mal anziehen kann, selbst für einen festlichen Anlass ist es zu speziell. Es ist halt doch ziemlich unpraktisch“.
Ein Stoff, der eine Geschichte erzählt, ist immer noch ein Stoff!
Ende
Inspiriert von dem grandiosen Text „Mode und Wirklichkeit“ von Rudolph Moshammer



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